Die Uhr, die ihre Zeiger verlor
Eine
Ping-Pong-Geschichte - also ein Mensch schreibt, und der nächste schreibt weiter
- ausgelöst vom
Foto einer Uhr mit weg-retuschiertem Zeiger in PP 599, S.8
Es gab eine Zeit in der Menschengeschichte, irgendwo zur Zeit Alexander von
Humboldts und der Gebrüder Grimm, in der die Dinge noch ein wenig lebten. Sie
waren nicht sehr klug. Sie waren mit ihrer unmittelbaren Umgebung beschäftigt.
Manchmal liebten sie, aber sie knutschten kaum. Manchmal hassten sie, aber es
gab selten Trümmer.
In dieser Zeit lebte eine Uhr und zeigte brav die damalige Zeit an. Typisch
und üblich und vorgegeben war, dass die Uhr nie hinter die Geisterstunde
gelangte, also jenseits von "12 Uhr nachts". Da musste die Uhr stetig wieder bei
Null anfangen, und nie durfte sie versuchen, eine Zeit anzuzeigen, die höher und
weiter reichte als eben bis zum "Glockenschlag 12".
"Ach, immer laufe ich im Kreise", klagte aber nun die Uhr. Denn sie hatte
keinen Zugang zu hohen Gedanken über den Grund und das Konzept ihrer
Zeitanzeige. Wie so die Tage in jener Zeit vergingen, in der die Dinge noch ein
wenig lebten, wuchs ein Trotz in unserer Uhr: "Heute nacht werde ich meine
Zeiger geradeaus laufen lassen", beschloss sie. "Ich lasse sie nicht sich
zurückbiegen zum frühen Morgen hinter der Mitternacht. Nein, sie sollen einmal,
einmal wenigstens nachschauen, nachmessen: Was liegt da noch tiefer in der
Nacht, was reicht da noch weiter am Tagesende, als es die Geisterstunde tut?"
Und so kam es, dass in einer ruhigen, von keinem Menschen und keinem Ding
beobachteten Nacht die Uhr ihre zwölfte Stunde schlug - und dann die Zeiger
sanft vom Zifferblatt glitten und sich zitternd weiter bergauf oder wenigstens
waagrecht zu bewegen versuchten. Doch ach, die Zeiger und die Uhr, die sie
antrieb, hatten ihre Rechnung ohne die Schwerkraft gemacht. Plump fielen die
Zeiger sogleich zu Boden.
Da lagen sie nun, und über ihnen die Uhr... hatte keine Zeiger mehr. Ihr
Räderwerk drehte sich, doch ihre Botschaft war zu Boden gefallen. "Es gibt keine
Zeit hinter zwölf Uhr", überlegte die Uhr. "Da steht die Zeit still, und um das
Verschwinden der Zeit zu verhindern, war ich angewiesen, sie im Kreis herum
anzuzeigen."
Jemand hätte an dieser Stelle mit der Uhr debattieren müssen: Die Zeit geht
schon noch ihren Gang, und Tag und Nacht wechseln sich weiterhin hab. Der
Zeitverlauf wird doch nicht befehligt durch die Zeiger einer Uhr in der Art, wie
etwa das Herz das Blut im Körper vorantreibt. Die Zeit steckt tief in den
wirklichen Dingen drin. Leider aber steckte die Zeit viel weniger tief in den
magischen Dingen drin, und so nahm die Geschichte ihren etwas tragischen
Verlauf:
Unsere Uhr nämlich meinte, sie habe die Zeit aus Versehen zum Stillstand
gebracht. Am nächsten Morgen, irgendwann beim Hellerwerden - keiner um sie herum
konnte nun noch eine allgemein geltende Uhrzeit feststellen - berichtete sie den
umgebenden Dingen, die zu ihr sahen und die Uhrzeit wissen wollten, von ihrer
trotzigen Tat in der Nacht und von den Folgen: Dass nämlich nun die Zeit
stillstünde. Und die Dinge, einfach wie ihr Denken war, glaubten ihr.
"Was machen wir, wenn die Zeit stillsteht?" fragten sie einander. "Wir
warten, ob sie wiederkommt. Vorerst stehen wir auch still", beschlossen die
Dinge.
Und seit dem bis heute, seit der Zeit Alexander von Humboldts und der
Gebrüder Grimm, stehen die Dinge erstarrt herum, denken kein bisschen mehr,
fallen plump und kommentarlos zu Boden, raunen nicht, lieben und hassen nicht.
Nur noch die Menschen, die denken, lieben und hassen, von den Märchen und den
zeitweise lebenden Dingen verlassen.
"Die rationale Phase" nennen sie, die Menschen, ihren Zustand. Und ausgelöst
wurde diese "rationale Phase" von einer klassischen Märchen-Uhr, die ein klein
wenig zu vertrackt dachte, die ein wenig zu kühn war und die Folgen ihres
Handelns ein wenig zu tragisch den anderen Dingen erläutert hatte.
Nemo
....................
... und hier Fata Morganas Antwort auf das Märchen:
...........
.... Perplex ist Ping-Pong: Du schreibst etwas, und
unberechenbar viel und wenig kommt an Feedback und weitet sich aus, bevor es
dann doch im Voranfließen der Zeitschrift versiegt. Hier Weiteres zur "Uhr":
PP 604/6
Danke fürs Uhrgeschichten-Lob an Nidoricapus 603/13, Dr.Acula 603/10,
T.d.N. 603/21.
Und
großartige Ausweitung dann, Fata Morgana 603/17! Das Treffen mit der
Digitaluhr und ihrem verdoppelten, aber dann doch zunächst endlichen Zeitraum
(Fortsetzung 3: Der programmierende Junge und die PC-Uhr, die daraufhin aus Jux
25.00 h zeigt, aber mangels Sinn auf jeder Uhren-Convention übergangen wird, das
Aufsetzen neuer Zeiger bei unserer Anna-Uhr, und dennoch erwacht die
Märchen-Welt nicht mehr, was seinen Grund hat im Stillstehen der analogen Welt
seit dem Sieg der digitalen Revolution, doch da kommt die Retro-Bewegung in
Gang, ausgelöst von Vinny, der Vinyl-Schallplatte..). Und nun auch diese
Disney-reife Namens-Gebung: Anna wie Analog, und Diggy. Yeah!
Nemo
.....
......
Nemos Reimkommentar zu Fata Morganas
Beitrag zur Uhrengeschichte 605/23 in 606/4:
Die
Märchenuhr
tickt
nicht in fester Spur.
Zeitweise vergeht
pro Tag
eine Sekunde nur.
Doch
kommt ein Kind und lauscht,
so
rauscht
begeistert los der Märchenwald.
Dichte
Gestalt
formt
sich aus vager Geschichte.
Der
Zeitwind weht.
Sekunden
sind nun Stunden.
Lange
Momente werden gefunden,
bis das
Kind geht.
Dann
stehn die Zeiger beinah still,
und
warten, dass erneut ein Kind
ein
Märchen hören will.
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